Ich höre immer wieder von Klienten oder Bekannten, dass sie an ihrer Selbstliebe arbeiten wollen. Dabei übersehen sie häufig einen wichtigen Punkt: Dass das Selbst im Wesentlichen im sozialen Kontakt entsteht. Der existenzialistische Religionsphilosoph Martin Buber brachte dies sehr schön in dem Satz auf den Punkt, "Der Mensch wird am Du zum ich."
Im Spiegel des Anderen wird der Mensch zu einem Selbst. Denn ein kleines Baby hat zunächst keinen Begriff, keine Vorstellung von sich selbst. Es ist ein Bündel aus Reflexen und Impulsen, die sich mal angenehm oder unangenehm anfühlen und die es im Laufe der ersten Lebensjahre sich selbst zuzuschreiben lernt. Mit Hilfe der Mutter und seiner Umwelt lernt es allmählich, dass zum Beispiel dieses Ziehen im Bauch Hunger heißt. Dies geschieht dadurch, wenn die Bezugspersonen sich empathisch auf das kleine Kind einstimmen und dessen innere Zustände richtig erraten und benennen. Indem die versorgende Umwelt sich auf das Kind "einschwingt" und dessen innere Zustände und Bedürfnisse richtig erkennt und mit Begriffen versieht, bekommt das Kind allmählich eine Vorstellung davon, wer es ist und was in seinem Inneren vorgeht. Weil es die Mutter liebt und von ihr abhängig ist, nimmt es ihre Spiegelungen in sich auf. Wenn ein Kind vermittelt bekommt, dass es willkommen und liebenswert ist, egal ob es hungrig oder fröhlich ist, gerade die Windeln voll gemacht hat oder auf's Töpfchen gegangen ist, wird es allmählich die Vorstellung entwickeln, dass es liebenswert ist: Die Liebe der Mutter wandert ins Innere und besetzt dort das entstehende Selbst des Kindes. Selbstliebe ist Liebe, die mir von Anderen, denen ICH Liebe geschenkt habe, entgegengebracht wurde. Selbstliebe ist erlernt, Selbstliebe ist erlernbar, aber nur im Spiegel eines anderen, dem ich eine positive Bedeutung gebe und der mir eine positive Bedeutung gibt. Wenn die Bezugspersonen eines Kindes es aber unterschwellig oder offen abgelehnt, vielleicht sogar gehasst und misshandelt haben, wird es auch diese Erfahrung verinnerlichen und auf sich selbst beziehen: Wenn meine Eltern mich so ablehnen, hassen oder sogar vernichten wollen, muss dies an mir liegen; wenn die Menschen, die ich am meisten liebe, mir so ablehnend begegnen, muss das heißen, dass ich nicht liebenswert bin, dass etwas an mir zutiefst abzulehnen ist. Sowohl Selbstliebe und Selbsthass sind also verinnerlichte Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen, die regelmäßig über einen langen Zeitraum gemacht wurden. (Auch traumatische Erfahrungen können das Selbst und die Fähigkeit zur Selbstliebe schädigen. Nicht immer ist dies also auf emotionale Deprivation im Kindesalter zurückzuführen. Aber Traumaopfern, die über genügend stabile soziale Beziehungen verfügen, gelingt es mit Hilfe dieser Beziehungen in der Regel leichter, solche einschneidenden Erfahrungen zu verarbeiten als wenn es sich um frühkindliche Defizite handelt.) Das heißt auch, dass jemand mit wenig Selbstliebe, der sich selbst als wenig liebenswert erlebt, sein Herz wieder öffnen und anderen Menschen eine positive Bedeutung geben muss. Nur positive Spiegelungen einer anderen Person, der ich eine positive Bedeutung beimesse, können eine positive Veränderung meines Selbstbildes und eine Verbesserung meiner Fähigkeit zur Selbstliebe bewirken. Dies führt zu einem Dilemma: Wenn jemand sich selbst ablehnt und überzeugt ist, dass die anderen ihn so ablehnen oder enttäuschen werden wie damals seine Eltern, wird diese Person ihr Herz verständlicherweise nicht öffnen. Warum? Weil sie überzeugt ist, dass sich die ursprüngliche Verletzung nur wiederholen kann und sie diesen Schmerz um jeden Preis vermeiden will. Hierdurch können aber keine korrektiven Erfahrungen in der Gegenwart gesammelt werden. Durch korrektive Erfahrungen werden die ursprünglichen negativen Erfahrungen zwar nicht ausgelöscht oder wieder gutgemacht, zumindest aber kann mit der Zeit ein Vertrauen in die eigene Liebenswürdigkeit (Selbstliebe ist die Liebe des eigenen Selbst, der eigenen Person mit allen Stärken und Schwächen) wachsen: Auch wenn meine Mutter (meine Eltern, meine Familie etc.) mich nicht genügend geliebt haben, mich nicht ausreichend zu würdigen wussten, gibt es doch Menschen, die mich gern haben. Doch zurück zu meiner Anfangsüberlegung: Einem Konzept von Selbstliebe, das sich vor allem über die Beschäftigung mit sich selbst - mit dem eigenen Körper, der "richtigen" Ernährung, "richtiger" Lebensführung, Selbstoptimierung usw. - definiert, fehlt ein wichtiger Aspekt: Die Dimension der Beziehung zum Anderen. Diese mitunter zu beobachtende, quasi autistische Beschäftigung mit sich Selbst ist aber eine Sackgasse. Sie dient in Wirklichkeit dazu, der Angst vor dem Anderen, der nicht gefühlten Selbstablehnung sowie der verleugneten eigenen Geschichte zu entkommen: "Wenn ich meinen Traumkörper habe, wird mich endlich jemand lieben.", "Ich muss immer besser werden (weil ich nicht gut genug = liebenswert bin)." etc. Welche Bedeutung hat diese Erkenntnis für den therapeutischen Kontext? Für die Therapie bedeutet dies, dass die therapeutische Beziehung - die Beziehung zwischen Therapeut und Klient - zuallererst im Fokus der Arbeit steht. Erst müssen die negativen Übertragungen des Klienten auf den Therapeuten (bspw.: der Therapeut ist genauso desinteressiert wie damals meine Mutter; der Therapeut will mich kleinmachen und demütigen wie damals mein Vater etc.) genügend durchgearbeitet sind. Erst dann wird der Klient bereit sein, sich in die Seele schauen zu lassen und dem Therapeuten zu erlauben, ihm neue Sichtweisen auf sich selbst zu entwickeln. Und nur dann kann Therapie gelingen. Die therapeutische Beziehung und die Durcharbeitung der Widerstände des Klienten gegen das therapeutische Bündnis bilden den Kern einer jeden Therapie, die eine tiefe Veränderung/Nachreifung des Selbst von Menschen anstrebt. Selbstakzeptanz/Selbstliebe kann nur mit Hilfe eines signifikanten Anderen erworben werden. Ich hoffe, dass Ihnen dieser kurze Text gefallen hat und freue mich natürlich, wenn Sie sich für eines meiner Angebote (Bioenergetik, TRE oder Coaching) interessieren. Nehmen Sie gerne Kontakt mit mir auf! Viele Grüße Ihr Steve Hofmann
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"Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser."
(Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Kap. 2) Im Frühjahr vergangenen Jahres erschien der von Jens Tasche und Dr. Reinhard Weber-Steinbach herausgegebene Sammelband "Bioenergetik als mentalisierende Körperpsychotherapie: Beiträge zum psychodynamischen Verständnis einer leibhaften Affektivität". Im Rahmen des Buchprojekts wurde auch ein Arbeitskreis Mentalisierende Körperpsychotherapie gegründet, dem u.a. auch ich angehöre. Ziel unserer Gruppe ist es, Brücken zwischen der Bioenergetik als klassischer Neo-Reichianischer Körperpsychotherapie und dem Mentalisierungskonzept von Peter Fonagy et.al. zu schlagen. Um dieses Vorhaben bekannter zu machen, wurde heute in der Praxis in der Rubensstr. 116 ein kleiner Imagefilm gedreht. Hier vorab schon einmal ein paar Bilder.
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Steve Hofmann
ist Körperpsychotherapeut (HP Psych) und Coach in Berlin Archiv
April 2024
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