Mentalisieren als therapeutischer Fokus - ein neues Feld Der Mentalisierungsansatz ist ein spannendes neues Feld innerhalb der Psychoanalyse/Tiefenpsychologie, der in den letzten 25-30 Jahren entwickelt wurde. Mentalisieren bezeichnet die menschliche Fähigkeit, sich und andere als Wesen mit einer Psyche (mit Gefühlen, Gedanken, Motiven usw.) wahrnehmen und konzeptualisieren zu können. Oder anders ausgedrückt: Über eigene und fremde Gefühle, Bedürfnisse, Reaktionsweisen u.ä. nachdenken zu können. Auch wenn dies erstmal nicht nach besonders viel klingt oder mancher sich die Frage stellen könnte, was daran denn erwähnenswert sei, so ist die Fähigkeit zum Mentalisieren nicht angeboren und alles andere als selbstverständlich. Die Fähigkeit, über sich und andere als psychische Wesen nachdenken zu können, wird im Laufe der Kindheit in engen Bindungsbeziehungen erworben. Wenn die wichtigen Beziehungen des Kindes nicht "gut genug" (Donald Winnicott) sind, wird die Mentalisierungsfähigkeit jedoch nur mangelhaft bzw. in extremen Fällen überhaupt nicht erworben. Tatsächlich zeichnen sich alle psychischen Störungen durch eine mehr oder weniger beeinträchtigte Fähigkeit zum Mentalisieren aus. Körper und Mentalisieren In der Mentalisierungsforschung/von mentalisierungsorientiert arbeitenden Therapeuten wurde bisher wenig oder gar keine Kenntnis von der Bioenergetischen Analyse und anderen Körperpsychotherapien genommen. Umgekehrt wurde innerhalb der Bioenergetik und den anderen Körperpsychotherapien bis dato wenig oder keine Kenntnis von der mentalisierungsgestützten Psychotherapie genommen. Diese Lücke wird nun von dem von Jens Tasche und Reinhard Weber-Steinbach herausgegebenen Band "Bioenergetik als mentalisierende Körperpsychotherapie: Beiträge zum psychodynamischen Verständnis einer leibhaften Affektivität" (Vandenhoeck & Ruprecht 2018) geschlossen. Das Vorwort schrieb Prof. Ulrich Schultz-Venrath, einer der in Deutschland führenden Experten für mentalisierungsgestützte Therapie (MBT). In neun praxisnahen und thematisch breit gefächerten Beiträgen gehen die Autoren darauf ein, wie der Fokus auf Mentalisierung ihre Arbeit als Körperpsychotherapeuten bereichert hat. So erläutert etwa die Berliner Bioenergetikerin Alice Moll in ihrem Artikel auf sehr persönliche Weise, wie die traditionelle bioenergetische Lehre von den Charakterstrukturen und von Katharsis als Weg zur Heilung sie in ihrer Arbeit immer wieder an Grenzen führte, wo sie mit ihrem bioenergetischen Handwerkszeug nicht weiterkam. Dies führte sie in jahrelangem Selbststudium zur Arbeit mit Defiziten der psychischen Struktur und mit der Mentalisierungsfähigkeit ihrer Klienten. Wenn die Arbeit mit dem Körper nicht (genügend) greift Einer der großen Vorteile der Bioenergetik ist, dass sie über die Arbeit mit dem Körper teils heftige Gefühlslagen aktivieren kann, die z.T. bis in die vorsprachlichen Lebensphasen des Klienten gehen. Dies ist gerade für Klienten besonders ansprechend, die nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu ihren Gefühlen haben und auf Gesprächstherapie daher nur begrenzt ansprechen. Traditionell dachte man in der Bioenergetik bis in die 1990er Jahre hinein, dass Katharsis (also die emotionale Entladung von Affekten) zur Anregung der körperlich-seelischen Selbstheilungs- und Selbstregulationskräfte führen würde. Dies würde in der Folge zu einer automatischen Wiederherstellung der psychischen Gesundheit führen, wenn die emotionalen und körperlichen Blockaden erst einmal genügend durchgearbeitet seien. Dies ließ jedoch die dynamischen Aspekte des Selbst als einer fließenden, immer wieder im Entstehen befindlichen Struktur, die im Kontakt mit dem Anderen und der Umwelt entsteht, außer Acht. In der Praxis tauchen zudem immer mehr Menschen auf, deren frühe psychische Entwicklung so defizitär verlaufen ist, dass sie nicht über ausreichende innere Verarbeitungsmuster verfügen, um unmittelbar emotional-kathartisch arbeiten zu können. Hier hat sich in der Praxis neben der Arbeit mit dem Mentalisieren die OPD mit ihren 5 Achsen (Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, Beziehung, Konflikt, Struktur, Psychische und psychosomatische Störungen) als sehr hilfreich erwiesen. Der Mentalisierungsansatz bietet ein großartiges Werkzeug, um zunächst oder begleitend auf der Ebene von Struktur und Strukturdefiziten (wie zum Beispiel mangelnde Affektwahrnehmung, mangelde Affektsteuerung, Selbstwahrnehmung, Objektwahrnehmung) arbeiten zu können. Diese Arbeit ist oft notwendig, bevor in der Therapie mit den klassischen bioenergetischen Körperinterventionen gearbeitet werden kann oder um die in der Körperarbeit und im therapeutischen Prozess auftauchenden emotionalen Verarbeitungs- und Abwehrprozesse besser verstehen und integrieren zu können. Mentalisieren in der körperpsychotherapeutischen Ausbildung - die Zukunft? Nicht zuletzt, weil der Mentalisierungsansatz noch relativ neu ist, wird er in der Weiterbildung bioenergetisch arbeitender Therapeuten bis dato wenig oder gar nicht vermittelt. Dies ist schade, da eine ganze Reihe von Problemen, mit denen Klienten heute in die Praxis kommen, dadurch nicht ausreichend erfasst und behandelt werden können. In meinem (Steve Hofmann) Beitrag beschreibe ich zum einen, wie mentalisierungsgestütztes Arbeiten theoretisch konzeptionalisiert werden kann, und zum anderen, wie mentalisierungsgestütztes Arbeiten in der Lehranalyse im Laufe meiner therapeutischen Ausbildung meine eigenen emotionale Reifung unterstützt hat. Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu früheren Generationen bioenergetischer Therapeut*innen ist es, dass beim Arbeiten mit der Mentalisierungsfähigkeit besonderes Gewicht auf die therapeutische Beziehung und die gemeinsame Exploration der Psyche gelegt wird (2-Personen-Psychologie). Im Unterschied hierzu lag der klassischen Bioenergetik ein Arbeitsmodell zugrunde, in dem der Therapeut es auf Grund seiner Ausbildung "besser wusste" als der Klient. Dieser Ansatz, der den Klienten nicht ausreichend mitdenkt und ihn eher zum Objekt des Therapeuten machte, birgt jedoch die Gefahr, dass die ursprüngliche Traumatisierung durch die nicht ausreichend mentalisierenden Eltern wiederholt wird (Robert Lewis). Auch wenn es sicherlich noch ein langer Weg bis dahin ist, ist es nicht zuletzt im Interesse der Klienten zu wünschen, dass die Ausbildungscurricula der bioenergetischen Institute um die Arbeit mit strukturellen und Mentalisierungsdefiziten erweitert werden. Fazit "Bioenergetik als mentalisierende Körperpsychotherapie" gibt eine Vielzahl von Beispielen und Perspektiven, wie der Einbezug einer Mentalisierung mitdenkenden Behandlungsebene das Arbeiten für Körperpsychotherapeuten bereichern und erleichtern kann, und wie Klienten in ihren Therapieverläufen hiervon profitieren können. Die Publikation ist bis dato die weltweit einzige, die systematisch versucht, mentalisierungsgestützes und körperpsychotherapeutisches Arbeiten in Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen. Allein deswegen hier eine glatte Kaufempfehlung! Auch wenn der Band sehr unschuldig daher kommt und sein Titel zunächst einmal klobig und abschreckend erscheinen mag, besitzt er große Sprengkraft, da er die Entstehung einer neuen, integrativen Arbeitsweise beschreibt, die den Anschluss an moderne Formen der Behandlungstechnik nicht scheut. Ich denke, dass es keine Übertreibung ist zu sagen, dass "Bioenergetik als mentalisierende Körperpsychotherapie" eine der wichtigsten Neuerscheinungen in der Bioenergetik der letzten 10-20 Jahre ist. Es bleibt zu wünschen, dass das Werk eine Wende und ein Um-Denken innerhalb der Zunft einleitet! Titel: Bioenergetik als mentalisierende Körperpsychotherapie. Beiträge zu einem psychodynamischen Verständnis leibhafter Affektivität.
Herausgeber: Jens Tasche/Reinhard Weber-Steinbach Autoren: Barbara Antonowicz, Christiane Bading, Marion Baum, Martin Herberhold, Steve Hofmann, Carsten Holle, Alice Moll, Ulrich Schultz-Venrath, Jens Tasche, Reinhard Weber-Steinbach Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht (2018) Taschenbuch: 226 Seiten Preis: 30 EUR
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Steve Hofmann
ist Körperpsychotherapeut (HP Psych) und Coach in Berlin Archiv
April 2024
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